Abstract – Ulrich H.J. Körtner
Das gemeinsame Verständnis des Evangeliums und die Rechtfertigungslehre
Aus heutiger Sicht scheint das gemeinsame Verständnis des Evangeliums und der Rechtfertigung unter den Kirchen der Reformation völlig unstrittig zu sein. Seit der Verabschiedung der Leuenberger Konkordie im März 1973 war die Rechtfertigungslehre kein Thema von Lehrgesprächen, die auf der Grundlage von LK 37-41 geführt wurden und werden. Dabei heißt es in LK 38 ausdrücklich, das „gemeinsame Verständnis des Evangeliums, auf dem die Kirchengemeinschaft beruht“, müsse „weiter vertieft, am Zeugnis der Heiligen Schrift geprüft und ständig aktualisiert werden“. Und tatsächlich war die Rechtfertigungslehre während der Beratungen, die schließlich zur Leuenberger Konkordie führten, alles andere als unstrittig.
Wie die Leuenberger Konkordie im ersten Teil – „Der Weg zur Gemeinschaft“ – feststellt, führte die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen ihr geschichtlicher Weg nicht nur zu der Einsicht, dass schon in der Reformationszeit die Gemeinsamkeiten im Verständnis des Evangeliums und des Glaubens größer als die bestehenden Gegensätze waren (vgl. LK 4), sondern vor allem auch zu der Erkenntnis, dass „das grundlegende Zeugnis der reformatorischen Bekenntnisse von ihren geschichtlich bedingten Denkformen zu unterscheiden“ ist (LK 5).
Es ist von theologischer und hermeneutischer Bedeutung, dass die Leuenberger Konkordie zwischen Rechtfertigungsbotschaft und Rechtfertigungslehre unterscheidet. Die Rechtfertigungsbotschaft wird mit dem Evangelium gleichgesetzt, die Rechtfertigungslehre dagegen als eine Interpretation des Evangeliums verstanden. In der Unterscheidung und Zuordnung von Glaubensvollzug und Glaubensverständnis, anders gesagt in der Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung als dem Grundvorgang christlichen Glaubens und der Rechtfertigungslehre als Interpretation dieses Geschehens besteht ein Grundproblem ökumenischer Dialoge wie auch die Dialog- und Konsensdokumente zur Rechtfertigungslehre von evangelischen Kirchen und römisch-katholischer Kirche zeigen. Auch wenn man dem hermeneutischen Ansatz der Leuenberger Konkordie zustimmt stößt die Unterscheidung von Sprache oder Denkform und Sache insofern an eine Grenze, als sich die Mitteilung der göttlichen Gnade nach reformatorischem Verständnis ihrerseits sprachlich vollzieht.
Im ökumenischen Dialog stellen sich aus evangelischer Sicht zwei Fragen: zum einen, ob das performative Sprachgeschehen, welches als Rechtfertigung des Sünders bezeichnet wird, auch in andere Formen der Theorie als derjenigen einer durchgeführten Rechtfertigungslehre sachgerecht erfasst wird; zum anderen, ob auch nichtsprachliche, z. B. sakramentale Vollzüge wie in der katholischen Eucharistiefeier oder in der ostkirchlichen Liturgie als der evangelischen Wortverkündigung entsprechende performative Akte, d. h. ihrer Struktur nach als Sprachhandlungen verstanden werden können, in welchen sich die bedingungslose Vergebung der Sünden ereignet. Diese Frage stellt sich auch deshalb, weil die Leuenberger Konkordie in LK 46-49 mit einer ökumenischen Perspektive schließt und das Modell der Einheit der konfessionsverschiedenen Kirchen in versöhnter Verschiedenheit als ihr Modell von Ökumene versteht.